Vorträge

Christoph Schmidt-Lellek

Identität aus psychologischer Sicht

Wie viel Unterscheidung, Abgrenzung brauchen wir, um Identität positiv entwickeln zu können?

Identität aus psychologischer Sicht - Unterscheidung, Abgrenzung, positive Entwicklung der Identität
2013 Akademie Christoph Schmidt-Lellek I
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Thesen

(1) Die Frage nach der eigenen Identität lässt sich folgendermaßen umreißen: „Was bin ich, wie kann ich mich selbst verstehen, was gehört zu mir und was nicht, was ist meine Sache in diesem Leben, was kann ich werden?“  

(2) Persönliche Identität steht in einem grundlegenden Paradoxon, bedingt durch die „Bipolarität der Psyche“ (Mentzos 2009): Verbundenheit (Zugehörigkeit) und nach Getrenntheit (Individualität, Für-Sich-Sein).

(3) Persönliche Identität ist nicht nur individuell bedingt, sondern entwickelt sich in engeren und weiteren Kontexten: Familie, Milieu, Freundeskreis, Konfession, Region, Nation, berufliche Sozialisation, Unternehmenskultur usw., und in den damit jeweils verbundenen sozialen Rollen.

(4) Identität ist ein lebenslanger Prozess, sie ist niemals abgeschlossen, wie bei allen lebenden Systemen. Identität ist folglich nichts Statisches, sondern sie ist als ein Kontinuum zu begreifen: eine fortwährende Entwicklung zwischen den Polaritäten „Zentriertheit“ und „Exzentrizität“ (Plessner 1953), ein lebenslanges Bemühen um eine Passung zwischen Innen und Außen.

(5) Die Identitätskonstruktion bewegt sich in einigen Spannungsfeldern zwischen mehreren polaren Gegensätzen

(6) In Psychotherapie und Beratung bzw. Coaching sprechen wir deshalb von „Identitätsarbeit“ als lebenslanger Aufgabe. Identitätsarbeit, Persönlichkeits- und Karriereentwicklung verlangen eine möglichst angstfreie Auseinandersetzung mit Fremdheit, und dies ist in erster Linie eine Frage der Bewusstseinsentwicklung und von „Bildung“.

(7) Durch Veränderungen bzw. durch eine Unterbrechung der Kontinuität kann es zu Identitätskrisen oder -brüchen kommen, die auch das Selbstwertgefühl bedrohen können. Identitätskrisen sind allerdings ein gewöhnlicher Bestandteil normaler Biographien; sie können bei einer hinreichenden Stärke des Identitätsgefühls aufgefangen und verarbeitet werden und enthalten damit die Chance, sich neue Erfahrungsbereiche zu Eigen zu machen.

(8) In einer Krisensituation (d. h. in einer Unterbrechung oder Verunsicherung von Kontinuität) ist es wichtig, darauf zu schauen, welche Teilbereiche der Gesamtidentität eine Stütze darstellen können. Hierfür kann das Modell der „Fünf Säulen der Identität“ (Heinl & Petzold 1980) hilfreich sein:

(1)  Leiblichkeit

(2)  soziales Netz

(3)  Arbeit und Leistung

(4)  materielle Sicherheit

(5)  Werte

 

(9) Der Schutz des Identitätserlebens verlangt verschiedene Funktionen:Flexible Anpassung an Herausforderungen von innen (Entwicklungsaufgaben im gesamten Lebensprozess) und von außen (neue Aufgaben, Situationen, Kontexte);Unterscheidungsvermögen, was in die eigene Persönlichkeit, den Lebensweg und die Werthaltungen passt und integriert werden kann und was nicht.

(10) Grenzen müssen „semi-permeabel“ sein, sie haben die Funktion, einerseits die stabile Kontinuität eines Individuums zu schützen und andererseits Neues in gefilterter Form aufzunehmen, um wachsen zu können („Verdauungsarbeit“).

(11) Identitätskonstruktion in der „Postmoderne“: An der Schnittstelle zwischen kollektiven und individuellen Orientierungen bei der Identitätskonstruktion entstehen heute neue Schwierigkeiten, da die familiären, lokalen, religiösen, beruflichen Zugehörigkeiten an Verbindlichkeit verlieren, schwächer werden und andererseits vielfältiger werden. Traditionelle Rollenmuster, die eine individuelle Biographie unterstützt oder vorgezeichnet haben (Familienentwicklung in ihren Phasen, berufliche Karriereverläufe usw.), verlieren ihre bindende Kraft, und wir sind in zunehmendem Maße genötigt, individuelle Modelle für die eigene Arbeits- und Lebensgestaltung zu entwickeln.