Uwe Optenhögel: Schweden, was ist das?

Vor dem Hintergrund der eigenen schuldträchtigen und traumatischen Geschichte entspringt das idealisierte Schwedenbild der Deutschen der Sehnsucht nach einem eigenen unversehrten Geschichts- und Weltbild.

In der Wahrnehmung der Deutschen erscheint Schweden als ein Land mit intakter Natur und einem humanen Umgang der Menschen untereinander, das Leben scheint wenig entfremdet (die idyllisch-idealistische Vorstellung der deutschen Romantik). Im Gegensatz zu Deutschland erscheint es als ein Land, das seine Unschuld nicht verloren hat und innerlich unversehrt blieb.

 

Die Schweden vertrauen ihrem Staat.

200 Jahre ohne Krieg oder Hyperinflation bzw. Währungsreform, gepaart mit einem Steuersystem, das die Steuern überwiegend in den Kommunen, also nah am Bürger, ausgibt, haben diese Vertrauensverhältnis entstehen lassen.

 

Das schwedische/ nordische Wirtschafts- und Sozialmodell hat sich als erfolgreicher erwiesen als das kontinentaleuropäische und das neo-liberale angelsächsische.

Die nordischen Länder haben in den letzten 15 Jahren gezeigt, dass ein großer öffentlicher Sektor, hohe Steuern, hohe Löhne und hochwertige soziale Dienstleistungen mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten (OECD und Europa) und herausragender internationaler Konkurrenzfähigkeit (Davos Index) vereinbar sind.

Svante Weyler: Kollektiv als Voraussetzung für radikale Individualität. Schwedische Reflexionen aus persönlicher Sicht

These 1:

Zentrale Player bei der Lebensgestaltung der Menschen sind der Staat, die Familie und das Individuum

These 2:

In Österreich und Deutschland „verbünden“ sich bislang der Staat und die Familie „gegen“ das Individuum. In den USA (oder auch in Italien) liegen die Verhältnisse anders: hier verbünden sich Familie und Individuum gegen den Staat.

These 3:

In Schweden hat die Entwicklung wiederum eine andere Richtung genommen. Hier „verbünden“ sich Staat und Individuum „gegen“ die Familie. Der Staat ermöglicht jedem und jeder Dank starker kollektiver Sicherungen das Ausleben radikaler Individualität jenseits von tradierten Beziehungen. D.h. natürlich gibt es auch in Schweden Familien, allerdings beruhen sie auf der Wahl und Entscheidung zwischen Gleichen und Freien. „In Schweden wählt die 23-jährige Tochter ihren Papa selbst.“

Paul B. Schmidt: Ich und die Gruppe ... zwischen Meer und Land. Maritime Reflexionen und persönliche Erfahrungen

Brücke Sund
Brücke Sund

Für viele ist das Meer heute in gewisser Weise aus dem Blick geraten oder es wird lediglich als das Trennende zwischen den Ländern gesehen, da es häufig durch Brücken oder per Flugzeug überwunden wird. Die großen Brückenprojekte über Belte und Sund haben sicher die Verbindungen zwischen Skandinavien und Mitteleuropa beschleunigt, gerade hier bleiben aber die vielfältigen Wasserflächen bedeutender Bestandteil der Topografie, wichtige Verkehrswege und natürlich wunderschöne Landschaften gerade dann, wenn man sich per Schiff in ihnen bewegt. Die Meere trennen also die Länder voneinander, über sie wird aber auch die Verbindung hergestellt, und in der Vergangenheit war die Reise per Schiff oft überhaupt der einzige Weg, um das Weite suchen oder die Weite finden zu können.

Das Schiff unter der Brücke
Das Schiff unter der Brücke

Daher möchte ich Euch einige Eindrücke vom Segeln schildern, vom Zusammen- leben auf schwankender Planke, von den Erfahrungen bei schlechtem Wetter, von den veränderten Perspektiven auf die Umgebung und auf sich selbst.

aufentern
aufentern

Während in der Vergangenheit die Arbeit des Seemanns hauptsächlich hart, gefährlich und schlecht bezahlt war, wofür er auch nicht wirklich entschädigt wurde durch die Möglichkeit, fremde Länder zu bereisen – dort sah er allzu häufig nicht vielmehr als den Hafen und die umliegenden Kneipen – haben wir heute natürlich neben der sportlichen Perspektive das individuelle wie das kollektive Erlebnis im Blick, wenn wir auf ein Segelschiff gehen und damit herumfahren.

 

Ein Schiff wie die „Roald Amundsen“, benannt nach dem norwegischen Polarforscher, braucht recht viele Crewmitglieder, um segeln zu können. Viele Segel müssen gesetzt und geborgen werden, dazu muß man aufentern in die Masten und auf die Rahen,

Segel packen
Segel packen

um dort Segel ein- und auszu- packen. Man steht in luftiger Höhe (bis 30 m) auf einem dünnen Draht und braucht seine Hände gleichzeitig zum Festhalten und zum Arbeiten. Mancher fasst sich zunächst einmal ein Herz und sucht den Weg ganz

oben sein
oben sein

nach oben. Der Blick von dort macht den Wechsel der Perspektive deutlich.

Blick von oben
Blick von oben
Momo
Momo

Wenn die Arbeit im Rigg fertig ist, kommen die allermeisten stolz und beglückt zurück an Deck, um jetzt mit vereinten Kräften die Segel zu setzen.

am Tampen
am Tampen

Wenn das Wetter ungemütlich wird, kommt es sehr darauf an, dass Schiff und Mannschaft der Belastung standhalten.

Welle
Welle
Biskaya
Biskaya

Aber auch bei leichteren Bedingungen lernen die Crewmitglieder, sich miteinander zu verständigen und ihre Abläufe zu arrangieren, denn man lebt auf relativ engem Raum beisammen, kocht und isst miteinander, man wohnt in engen Kammern zu viert und kann sich auch sonst nicht recht aus dem Weg gehen. Natürlich ist ein solches Schiff ein Ort für besonders intensive Gruppenprozesse, aber meist verbinden sich diese auf fruchtbare Weise mit den individuellen Erfahrungen vor allem der Neulinge, die zunächst einmal lernen wollen, wie dieses brauchbar komplexe System funktioniert, und die auch schauen müssen, wie sie selbst zurecht kommen auf dem schwankenden Untergrund.

Kreuzer
Kreuzer

Da wir ja zum Vergnügen unterwegs sind, haben wir den Vorteil, uns Reisezeit und Revier aussuchen zu können. Hier in Skandinavien haben die Leute den Vorteil, dass oft wunderschöne Reviere wie dieses vor Göteborg ganz in ihrer Nähe sind. Hier gibt es viele geschützte Gewässer, in denen es sich mit Vergnügen segeln lässt, auch wenn die Saison recht kurz ist. Dafür wird man mit  wundervoller Landschaft und absoluter Ruhe belohnt.

Schären
Schären

Schon ein knappe Stunde von Göteborg entfernt gibt es viele Stellen, wo man in völliger Abgeschiedenheit bis an den Stein heranfahren kann, um so an Land zu gehen, ohne einen Hafen anzulaufen. Und auch auf einem kleineren Schiff bieten sich interessante Perspektiven, wenn man einen ungewohnten Standort wählt.

Wind in Norwegen
Wind in Norwegen

Die Länder Skandi- naviens bieten mit ihren vielen Inseln und Fjorden + einer Mütze voll Wind auch im Som-mer auch für sportliche Segler ein interessantes und abwechslungs- reiches Revier, auch hier kommt es da- rauf an, dass Schiff + Crew mit den Ele- menten zurecht kommen.

Crew
Crew
Crew
Crew

Segeln ist ein Teamsport. Die Crew muss sich aufeinander verlassen können, jeder spürt, dass niemand allein so ein Schiff fahren kann. Die Expertise der erfahreneren Segler dient zuallererst dazu, die Crew zu befähigen, sicher und ruhig das Schiff zu fahren, auch wenn das Wetter ihr einiges abverlangt. Alle spüren das, und alle erleben es als Bereicherung, wenn sie mit der Crew einen anstrengenden Segeltag abgeschlossen haben und am Abend beim Essen zusammen sitzen.

DK Limfjord
DK Limfjord

Dann kommt man wieder in hochsommerliche Situationen, in denen man sich schaukeln und die Seele baumeln lassen kann, und erreicht ein paar Tage weiter Landschaften von herber Schönheit, die sich vom Wasser aus ganz anders

N Lysefjord Perspektive Boot
N Lysefjord Perspektive Boot

Der selbe Ort zeigt sich vom Boot aus anders als...

Boot im Lysefjord
Boot im Lysefjord
Lysefjord Perspektive Berg
Lysefjord Perspektive Berg

... aus einigen hundert Metern Höhe.

Schären
Schären

Die nordischen Landschaften sind nicht überall spektakulär, fast immer aber ist das Wasser in der Nähe, und oft sind die Wege übers Wasser die kürzesten, zumal wenn wie in Norwegen steile Berge und Meer unmittelbar aufeinander treffen.

Anker
Anker

Noch eines sei erwähnt über den nordischen Sommer: mit etwas Glück bekommt man ungemein viel Licht, und die warme Einfärbung des Sonnenlichts in den Abendstunden, die im Süden so kurz ist, begleitet uns hier je länger, je weiter wir in den Norden vordringen, bis es schließlich im Polarsommer für einige Wochen gar nicht dunkel wird. Daher ist in Norden die Saison kurz und turbulent, denn alle wollen den kurzen Sommer nutzen, und ...

voller Hafen
voller Hafen

... nicht immer findet das Schiff Platz in einer einsamen Ankerbucht.

Ankerbucht
Ankerbucht

Christoph Schmidt-Lellek: Das "offene Meer" als philosophische Metapher

Johann Gottfried Herder (1746 – 1803)

  „Herder sticht in See“ (Rüdiger Safranski)

 

„Meine einzige Absicht ist die, die Welt meines Gottes von mehr Seiten kennenzulernen“

 

„Was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphären zu denken! (...) Auf der Erde ist man an einem toten Punkt angeheftet und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen ... o Seele, wie wird dir´s sein, wenn Du aus dieser Welt hinaustrittst?“

   

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)

„Das offene Meer der unbekannten Möglichkeiten, das man befahren muss, um es zu erkunden“ (Georg Picht)

 

Philosophie ist für Nietzsche eine „Fahrt in das offene Meer der Unendlichkeit“, d.h. das Denken ist „ein Prozess, der an sich keine Ende hat“, ein processus in infinitum, ein Vorwärtsschreiten in die Unendlichkeit

 

„Alles fließt (...) Du steigst nicht zwei Mal in denselben Fluss“ (Heraklit)

Das "offene Meer"
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Henning Melber: Dag Hammarskjöld - Ein kosmopolitischer Pilger schwedischer Herkunft

Ein Tod unter ungeklärten Umständen

 

Hammarskjöds politische Ethik

„Die Integrität und konsequente Verteidigung wesentlicher Grundwerte ohne pragmatische Zugeständnisse an die Mächtigen dieser Erde machen auch einen Wertkonservativen (wie Dag Hammarskjöld) ohne parteipolitische Ideologie zum überzeugten und kompromisslosen Verfechter einer humanistischen Weltanschauung. Radikaler und ehrlicher als so manche pseudo-revolutionäre Ideologie, ist eine solche Weltanschauung von Standfestigkeit, Integrität und Überzeugung geprägt, die sich von Grundsätzlicherem als einer Parteilinie leiten lassen.“

 

enge Verbundenheit des UN-Generalsekretärs mit seiner schwedischen Heimat, die sich in seiner Liebe zur Natur sein Leben lang manifestierte

 

Dag Hammarsjköld hatte eine exzessive Arbeitsweise. Die ihm jenseits davon verbliebene Zeit verwandte er neben Naturwanderungen und seinem dabei ausgeübten Hobby der Landschaftsphotographie meist auf umfassende Briefwechsel mit Freunden, Angehörigen der Familie, Schriftstellern und anderen Künstlern.

 

Sein als „Vägmärken“ posthum veröffentlichtes Tagebuch beginnt mit Eintragungen aus dem Jahre 1925. (...) Die Veröffentlichung der sein Seelenleben offenbarenden Aufzeichnungen führt auch dazu, dass Dag Hammarskjöld zu den herausragenden Vertretern einer neuzeitlichen Mystik gezählt wird.

 

Das Vermächtnis Hammarskjölds

passionierte Hingabe an sein Amt

 

die Vereinten Nationen als ein Forum aller Staaten und Völker begreifen, um eine internationale Gemeinschaft zu schaffen, bei deren Formierung die Weltorganisation eine instrumentelle Rolle zu spielen und dessen Ausdruck sie zu sein habe

 

kommende Generationen vor Kriegen zu bewahren

 

gleiche Rechte für alle Mitgliedstaaten der Völkergemeinschaft, die ihrerseits gleichermaßen die Menschenrechte und Grundfreiheiten uneingeschränkt respektieren

 

gleiche wirtschaftliche Möglichkeiten für alle Mitgliedstaaten

Hammarskjöld: Ein kosmopolitischer Pilger
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Klaus Pumberger: Über die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv. Eine kurze historische Einstimmung

Bevor wir uns im „Europäischen Wirthaus“ über unsere eigenen Erfahrungen zum Thema „Individuum und Kollektiv“ austauschen, möchte ich den heutigen 1. Mai 2009 zum Anlass nehmen, eine kurze fiktive historische Rückblende zu unternehmen:

 

„Wir wünschen allen unseren Zuhörerinnen und Zuhörern an Euren Gemeinschaftsapparaten einen wunderschönen guten Morgen.

 

Heute ist der 1. Mai 1929. in Wien. Es ist das rote Wien. Es ist eine Zeit der Furcht. Vor gut 2 Jahren haben die Regierenden auf eine große Arbeiterdemonstration beim Justizpalast schießen lassen. Mehr als 100 Tote waren zu beklagen. Aus Deutschland kommen beunruhigende Nachrichten herein, von den zunehmenden Wahlerfolgen der Hitler-Partei NSDAP. Es ist aber auch eine Zeit des Zweifels. Für die Arbeiter in Wien gilt nach wie vor: Hände weg von der Sowjetunion! Umso mehr verstören jüngste Berichte aus Moskau über Säuberungen in der Partei. Und doch ist es auch eine Zeit der Hoffnung. Die Arbeiterbewegung ist im Roten Wien seit einem Jahrzehnt an der Macht. Zentrale Anliegen hat sie in die Tat umgesetzt: vom Wohnungsbau bis zur Kulturpolitik. Und von dieser Hoffnung erzählt uns das folgende Lied. Es wird vorgetragen von der Vokalstimme des Ensembles „Wagonbau“:

 

Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt.

Wir sind der Sämann, der Saat und das Feld.

Wir sind die Schnitter der kommenden Maht,

wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.

So flieg Du flammende, Du rote Fahne,

voran dem Wege, den wir ziehn;

Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer,

wir sind die Arbeiter von Wien.

 

Was aus dieser Zukunft geworden ist, das wäre wieder ein eigenes Thema. Dennoch, was auffällt: in diesem Lied kommt das „Wir“ 14X vor, das Wort „Ich“ nicht einmal. Ist es also doch kein Zufall, dass ein Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokratie den prägenden Satz aussprach: „Ohne die Partei bin ich nichts!“?

Klaus Pumberger: Akademie an der Grenze: Ein Projekt in Europa. Eine Zwischenbilanz

Wir leisten mit der Akademie einen Beitrag, die eigene Identität zu erkennen, sie zu behalten und sich zugleich für andere Identitäten zu öffnen.

 

Dabei hat die Akademie eine Methodik entwickelt, einen positiven Umgang mit europäischen Identitäten zu üben, zu vermitteln und zu erleben.

 

Die beteiligten Personen in der Akademie spiegeln selbst diese widersprüchliche Vielfalt und Heterogenität Europas.

 

Durch unsere Herangehensweise und vielfältigste Methodik verwandeln wir europäische Grenzen in Erfahrungsräume..

 

Die Akademie sucht Orte an europäischen Grenzen aus mit einer emotionalen und historischen Aura, in denen die Teilnehmer* Verbindungen zu eigenen Erfahrungen, Themen und existenziellen Fragestellungen erkennen können:

 

Dieses Verfahren schließt bewusst die Schatten der historisch-gesellschaftlichen, aber auch persönlichen Entwicklungen in Europa mit ein, die diesem positiven Umgang mit europäischen Identitäten entgegenstehen.

 

Der Akademie geht es um das gesamte Europa. Sie ist daher wandernd angelegt, von einem Ort zum nächsten an europäischen Grenzen.

 

So beschreibt der ehemalige französische Premier Dominique Villipin die Menschen in Europa in erster Linie als „Reisende“

 

Wir sind also in der Akademie auf dem Wege in Europa. Zugleich geht es dabei immer auch darum, sich innerlich auf die Reise zu begeben.

 

„Europas Geschichte bestand seit jeher aus dem Umgang mit und der Überwindung von Grenzen.“ (Claudio Magris)

 

„Es ist der Grenzraum, der trennend wirken sollte und zu dem doch beide Seiten gehören. Im Dazwischen, auf der Schwelle, hier befindet sich die Grenze; ihre Überwindung, wie ihre Öffnung liegt im Erzählen.“ (Julia Franck)

 

Dieses „Erzählen“ verstehen und leben wir in der Akademie sehr breit und vielfältig.

 

„Die Grenze ist der eigentliche fruchtbare Ort der Erkenntnis.“ (Paul Tillich)

Akademie an der Grenze: Eine Zwischenbilanz
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